Der Mann aus Gando

Mathias Maurer

Großer Bahnhof in Huglfing. Das Fernsehen ist da, Feuerschalen brennen, ein großes Buffet erwartet die Gäste. Vertreter von Stadt und Land, der Waldorfschulbewegung, Eltern und Lehrer, Freunde und Förderer sind zugegen. Wir sind in Oberbayern, genauer, im Pfaffenwinkel. Noch ist ein schmuckloser Gewerbebau das Domizil der Waldorfschule Weilheim, doch das soll sich bald ändern. Der Baukreis der Schule, durch die Bank besetzt mit Architekten und Bauingenieuren, fragte bei sechs renommierten Architekturbüros um Werkvorträge an. Unter ihnen Francis Kéré, ein Shooting Star der internationalen Architekturszene – und er sagte zu.

Waldorfschulen kannte Kéré. Mit seinen Architektur-Studenten besichtigte er immer wieder Schulen und er sagte zu ihnen: »Wenn ihr baut, müsst ihr auf den Menschen schauen. Er steht im Zentrum. Das ist ökologisch, das ist nachhaltig, das ist ganzheitlich.« Beuys‘ »Soziale Plastik« heißt für ihn: »Die Menschen partizipieren – das ist unser gemeinsames Projekt.«

Die Verbindung seiner afrikanischen Traditionen zur Waldorfpädagogik umreißt er mit den Begriffen Leben – Bauen – Machen – Gemeinschaft – Farbe. Raum ist für Kéré ein Synonym für Heimat. In seinem Dorf gilt es als unmoralisch, wenn nicht alle an einem Bau Hand anlegen. »Ich wollte weg von der postkolonialen Bauweise, weg von den modernen Brutkisten, hin zu einer Bauweise des Stammes, des Dorfes, der Gemeinschaft. Und das hat mit Waldorf zu tun. Ich versuche, Räume zu kreieren im Gespräch mit den Kindern, den Eltern und Lehrern, Räume, die die Gemeinschaftsidee stärken, die die Schritte hin zur Gemeinschaft führen. Das geht nur durch partizipatorische Prozesse.« Inspiriert ist er von dem Werk Lois Kahns, einem amerikanischen Architekten, der sagt, dass das Material mehr sein möchte als Funktion und nur Material, mit dem man baut. Selbst das Material soll der Gemeinschaft dienen. Der ausschließlich funktional-rationalistische Ansatz, wie ihn Mies van der Rohe vertrat und der stilbildend für eine ganze architektonische Epoche war, ist Kérés Sache nicht, wenn auch die Ökonomie beim Bauen immer eine Rolle spielt. Einen zweistelligen Millionenbetrag soll das Gesamtkunstwerk kosten, in vier Bauabschnitten geplant, dem Wachstum der Schule folgend; ein fünfter Bauabschnitt mit Kindergarten und Krippe ist angedacht. Doch nichts ist ökonomischer, als auf die menschlichen und materiellen Ressourcen vor Ort zurückzugreifen, sagt Kéré – quasi eine Gegenvision zum globalen Markt.

Um das Modell der neuen Schule in Weilheim steht eine Menschentraube, Pläne werden betrachtet. Kéré sucht in seinen Entwürfen die einfache, ja elegante Form, ein gegliedertes Ensemble von Baukörpern, die untereinander und mit der Landschaft korrespondieren. »Einfachheit braucht die genaue Wahrnehmung und viel Planung«, kommentiert Kéré. In der Mitte ein Hof mit Feuerstelle, ein Zentrum, das den Kindern Orientierung geben soll.

Das Ganze soll auf einem ehemaligen Erdbeerfeld entstehen, das wieder auf die geschwungenen großen Dächer gepflanzt werden soll. Große Fensterflächen geben den Blick frei in das angrenzende Naturschutzgebiet samt Römerwall und die schneebedeckten Berge. Es ist geplant, Materialien des Kulturraumes für den Schulbau zu verwenden. Kéré ist bekannt für seine innovativen Konstruktionen, die traditionelle Materialien mit modernen Bautechniken verbinden.

Sonnenkranz und Studium

Kérés Biographie ist ein afrikanisch-deutsches Abenteuer. Er wuchs als Sohn eines Stammeshäuptlings in Burkina Faso auf, der ihn in die Schule schickte, damit er ihm, da Analphabet, die Briefe vorlesen konnte. Kérés Gesicht ist von einem Narbenkranz gezeichnet – ein Symbol für die Sonne, sagt er, das er bei seiner Initiation erhielt. Er lernte in seinem Heimatdorf die traditionelle Bauweise kennen, machte eine Schreinerlehre, bekam ein Stipendium für Deutschland, holte das Abitur nach und studierte an der Technischen Universität in Berlin Architektur.

Nach dem Studium machte er sein eigenes Büro auf, Kéré Architecture, mit mittlerweile sechzehn Mitarbeitern. Kérés Liste an internationalen Auszeichnungen ist beeindruckend. Unter anderem erhielt er den Aga Khan Award, die wichtigste Auszeichnung in der islamischen Welt. Es folgten zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland, zuletzt in Philadelphia und München. Kéré hat eine Professur zu »Architectural Design and Participation« an der Technischen Universität München inne sowie Lehraufträge an der Accademia di Architettura di Mendrisio und an der Graduate School of Design in Harvard.

Kéré liebt Geschichten und er braucht sie zum Bauen. Sie sind das kulturelle Gedächtnis der Menschen an diesem Ort, in dieser von ihnen kultivierten Landschaft. So geht er spontan auf das Angebot eines eingesessenen Nachbarn des Baugrundstücks, des stellvertretenden Landrats, ein, mit ihm eine Begehung zu machen – inklusive Weißwurst-Brotzeit. »Da entdecke ich die Kultur viel schneller«, sagt er. Es ist überhaupt erstaunlich, in einem Bundesland, in dem Waldorfschulen keinen leichten Stand haben, zu erleben, wie offen und interessiert die Menschen hier den Schulbauplänen begegnen; noch erstaunlicher, dass ein farbiger Architekt aus Burkina Faso auf so große Akzeptanz, ja Begeisterung stößt. Es ist keine filmische Fiktion, wie in Percy Adlons »Out of Rosenheim«, sondern ein bayerisches reales Wunder.

Europa impulsieren – das geht

Kéré ist ein Entwicklungshelfer in beide Richtungen. Nahezu monatlich besucht »der Mann aus Gando«, wie sie ihn dort nennen, sein Heimatland. Dort wird das interkulturelle Operndorf, das er mit dem verstorbenen Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief plante und umsetzte, weitergebaut. Nach Schule und Krankenhaus entsteht dort jetzt als kulturelles Zentrum das Festspielhaus. Kéré wehrt sich gegen den Verdacht, ein politischer Architekt zu sein oder gar einen »postkolonialen Diskurs« anstoßen zu wollen. Sein soziales Engagement als Architekt provoziert nicht, sondern kommt auf leisen Sohlen.

»Die Welt soll zusammenkommen«, sagt er, »und Afrika, die Wiege der Menschheit, kann Europa impulsieren. Ich will das tun, auch wenn es in manchen Ohren lächerlich klingen mag. Es braucht Visionen, auch wenn manch einer den Kopf schüttelt. Ohne Visionen geht es nicht weiter. Gemeinschaftsbildung durch afrikanische Architektur, da lachen ja alle. Aber an der Hochschule in Mendrisio stehen die Studenten Schlange, um bei mir ihre Entwürfe zu machen.«

Eines seiner Projekte ist das Satellite-Theater auf dem stillgelegten Flughafen Tempelhof in Berlin, wo siebenhundert Flüchtlinge untergebracht sind. Kéré überlegte, wie er sie bei den Bauarbeiten einbeziehen könnte. Das Projekt konnte nur teilweise realisiert werden. Zur Eröffnung kam das Stück »Iphigenie« des syrischen Dramatikers Mohammad al Attar mit vierzig Flüchtlingsfrauen zur Aufführung.

Kéré sagt, er würde sich glücklich schätzen, wenn er in die deutsche Waldorfschullandschaft frischen Wind bringen könnte. Das wird in Weilheim der Fall sein.


Die Freie Waldorfschule Weilheim sucht Investoren mittels Nachrangdarlehen und Sponsoren für dieses zunkunftsweisende Bauprojekt. Als Schule im Aufbau freuen sich die Weilheimer auch auf neue Schüler und Lehrer.

www.waldorf-weilheim.de
www.kere-architecture.com