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Tod im Eis

Mathematiker der Freien Universität Berlin und Glaziologe der ETH Zürich klären historischen Schneetod mithilfe einer Gletschersimulation

Nr. 050/2014 vom 13.02.2014

Der Mathematiker Guillaume Jouvet von der Freien Universität Berlin und der Glaziologe Martin Funk von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich haben in der jüngsten Ausgabe des Fachblatts „Journal of Glaciology“ ihre Ergebnisse zu den Todesumständen von vier Männern in den Alpen im Jahr 1926 publiziert. Im März 1926 kehrten vier junge Männer, davon drei Brüder, nicht von ihrer Bergtour auf dem Großen Aletschgletscher zurück. 86 Jahre später fanden zwei englische Alpinisten die sterblichen Überreste der drei Brüder im ewigen Eis. Ausgehend vom Fundort der Knochen haben Guillaume Jouvet und Martin Funk mithilfe eines Computermodells den Ort zurückverfolgt, an dem die Männer zu Tode gekommen und vom Gletscher aufgenommen worden sein müssen.

Im März 1926 erreichten mittags vier Männer, drei von ihnen Brüder, den Großen Aletschgletscher, den mit 23 Kilometern längsten Eisstrom der Alpen. Laut Augenzeugen brachen sie am Nachmittag zu einer Tour auf. Es war das letzte Mal, dass man sie lebend sah. Wahrscheinlich gerieten sie in einen Schneesturm und erfroren. 86 Jahre später, im Juni 2012, fanden zwei englische Wanderer Überreste und Ausrüstungsgegenstände der drei Brüder; der vierte Mann bleibt verschollen. Ausgehend vom Fundort der Knochen haben der Mathematiker Guillaume Jouvet aus der Arbeitsgruppe von Professor Ralf Kornhuber an der Freien Universität Berlin und der Glaziologe Martin Funk von der ETH Zürich nun den Ort ermittelt, an dem die Männer höchstwahrscheinlich starben und vom Gletscher aufgenommen wurden. Bei der Rekonstruktion half ihnen ein Computermodell, das Jouvet 2010 während seiner Doktorarbeit an der ETH Lausanne entwickelt hatte.

Ursprünglich hatten die Mathematiker und Glaziologen das Modell erstellt, um Wachstum und Schwund des Aletschgletschers im Zeitalter des Klimawandels zu verstehen. Das Simulationswerkzeug der Forscher stellte erstmals das dreidimensionale Fließfeld des Gletschers dar und ließ auch Aussagen über die Fließgeschwindigkeit im Innern des Gletschers zu. Mit ihrem Modell simulierten die Forscher zunächst die zukünftige Entwicklung des Aletschgletschers in einem sich verändernden Klima.

Im Fall der vermissten Wanderer nutzten die Forscher das Modell, um die Geschichte des Gletschers rückwärts zu simulieren: um den Weg zurückzuverfolgen, den die sterblichen Überreste der Brüder im Gletscher nahmen. Das Modell berücksichtigt die zeitlich und räumlich variierende Fließgeschwindigkeit des Eises. Es zeigte sich, dass die Körper mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 122 Metern pro Jahr insgesamt rund 10,5 Kilometer im Eis transportiert worden sein müssen. So gelang es den Wissenschaftlern, das Gebiet, in dem die Alpinisten verschwanden und vom Gletscher „verschluckt“ wurden, zu bestimmen und auf eine Fläche von 1600 mal 300 Metern einzugrenzen.

Jouvet und Funk hoffen, bei der Lösung weiterer ungeklärter Fälle helfen zu können, zum Beispiel beim spurlosen Verschwinden eines Flugzeugs des Typs Dakota C-53. Im November 1946 stürzte die Maschine auf dem Gauligletscher in den Berner Alpen ab. Die Passagiere – amerikanische Militärangehörige – konnten in einer komplizierten Aktion gerettet werden; die Maschine verschwand im Eis. Die Forscher wollen mithilfe ihres Programms eine Prognose erstellen, wann das Flugzeug wieder vom Gletscher freigegeben werden wird. Vom vierten jungen Mann, der die drei Brüder an jenem Tag im Jahr 1926 begleitet hatte, fehlt bis heute jede Spur – bis das Eis eines Tages vielleicht auch seine sterblichen Überreste freigibt.

Im Internet (Abbildungen, Filme, Informationen):

http://page.mi.fu-berlin.de/jouvet/#simulations

Weitere Informationen

Dr. Guillaume Jouvet, Freie Universität Berlin, Institut für Mathematik, Telefon:030 / 838-75348, E-Mail: guillaume.jouvet@fu-berlin.de