08.06.2020

Waren die Maßnahmen ein Fehler? Die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung sieht das nicht so

  • Zu Beginn der Krise hielt ein hoher Anteil der Österreicher*innen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie für angemessen oder sogar für nicht ausreichend. Der Anteil dieser Personen nahm mit Abklingen der Infektionsfälle im Lauf der Krise leicht ab, bleibt aber weiterhin sehr hoch.
  • Der Anteil jener, welche die Maßnahmen trotz zahlreicher Lockerungen für effektiv halten, bleibt konstant bei etwa 70 – 75 %.
  • Die Akzeptanz der noch geltenden Maßnahmen – Maskenpflicht, Reiseverbot und Verbot größerer Veranstaltungen – bleibt trotz leichtem Abstieg auf hohem Niveau.
  • Mit der Ankündigung der Abschaffung einer Maßnahme sinkt ihre Akzeptanz in der Bevölkerung.
  • 20 % der Befragten denken aktuell, dass die Maßnahmen ein Fehler waren, und etwa 25 % meinen, dass die Regierung die gesundheitliche Gefahr übertreibt.

Von Marvin Waibel, David W. Schiestl und Fabian Kalleitner

Das Coronavirus veränderte das Leben vieler Menschen in Österreich innerhalb weniger Wochen grundlegend. Die Regierung ergriff in kurzer Zeit zahlreiche Maßnahmen, um die Ansteckungswelle zu reduzieren, und musste dabei eine Gratwanderung zwischen der Eindämmung des Gesundheitsrisikos und der Achtung persönlicher und wirtschaftlicher Freiheiten meistern. Die Corona-Krise wurde somit immer auch von einem öffentlichen Diskurs über die Notwendigkeit und Angemessenheit staatlicher Maßnahmen begleitet. Dieser Blogbeitrag soll einen Einblick in die Wahrnehmung und Akzeptanz der österreichischen Bevölkerung auf diese Maßnahmen im Verlauf der Krise geben.

Wahrgenommene Angemessenheit der Maßnahmen über die Zeit

Die bedeutsamsten Maßnahmen, wie etwa die Schließung der Betriebe und Geschäfte abseits der Grundversorgung, sowie die Ausgangsbeschränkungen erfolgten bereits Mitte März vor der ersten Erhebungswelle (Welle 1: 27.-30.3.). Das Infektionsgeschehen befand sich zu Beginn unserer Messungen Ende März gerade auf seinem Höhepunkt (siehe Blog-Beitrag Nr. 51 von Markus Pollak, Nikolaus Kowarz und Julia Partheymüller). Zu diesem Zeitpunkt hielten 71 Prozent der Befragten die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Pandemie für angemessen (Abbildung 1). Dies ist der höchste Wert in allen neun Erhebungswellen und zeugt von der anfänglichen hohen Bereitschaft, auch starke Einschränkungen und Einschnitte in Freiheitsrechte zu akzeptieren.

Im Laufe der letzten zwei Monate zeigt sich, dass der Großteil der Befragten die Maßnahmen relativ konstant für angemessen hält (maximal 73 % – minimal 66 %). Veränderungen in der Wahrnehmung lassen sich aber dennoch feststellen: Während zu Beginn der Datenerhebung der Anteil jener, die sich eher noch stärkere Maßnahmen wünschten, leicht den Anteil jener überwog, welche die Maßnahmen eher als zu drastisch empfanden, kehrte sich dieses Verhältnis im Laufe der Zeit um: Mittlerweile empfinden etwa 28 Prozent der Befragten die gesetzlichen Maßnahmen als „eher zu stark“ oder „zu extrem“. Die Stimmen, die eine Lockerung der Maßnahmen fordern, mehren sich also – obwohl bereits zahlreiche Maßnahmen stark gelockert oder vollständig zurückgenommen wurden. Dies deutet darauf hin, dass Teilen der Bevölkerung die Lockerungsmaßnahmen eher zu langsam gehen, Skepsis über eine zu rasche Lockerung scheint dagegen wenig verbreitet zu sein.

Dies hängt mit der Einschätzung der gesundheitlichen Folgen der Krankheit zusammen: Die Gefahr, die das neuartige Virus sowohl für die Gesamtbevölkerung als auch für die Befragten selbst darstellte, war nach persönlicher Einschätzung der Befragten zu Beginn der Krise am höchsten, nahm aber dann rasch und kontinuierlich ab (siehe dazu Blog 22 und 39). Dabei zeigen sich über alle Umfragewellen hinweg einen deutlichen Zusammenhang zwischen zur Einschätzung der Angemessenheit der Maßnahmen – mit tendenziell wachsender Intensität[1]: Demnach halten Personen die Maßnahmen eher für angemessen oder sogar unzureichend, wenn sie die gesundheitliche Gefahr hoch einschätzen. Bei den Einschätzungen zur allgemeinen gesundheitlichen Gefahr fallen die Korrelationen dabei stets stärker aus als bei jenen zur Gefahr für die eigene Gesundheit. Dies weist auf Solidarität in der Bevölkerung hin: Die allgemeine Lage bezüglich der Pandemie ist für die Befragten wichtig genug, um Maßnahmen zu akzeptieren – selbst, wenn sie für sich selbst wenig Gefahr sehen.

Abbildung 1: Angemessenheit der Reaktion der österreichischen Regierung in Zusammenhang mit dem Coronavirus (Daten: Austrian Corona Panel Data, Welle 1-9, Anteile gewichtet)

Doch auch wenn die Gefahrenwahrnehmung abgenommen hat und inzwischen viele der Maßnahmen wieder aufgehoben wurden, werden die Maßnahmen der Regierung vom Großteil der österreichischen Bevölkerung auch rückblickend nicht als falsch angesehen. Weniger als ein Viertel der Befragten glaubt, dass die Regierung die gesundheitliche Gefahr übertreibt, oder würde die Maßnahmen als Fehler ansehen (Abbildung 3). Im Zeitverlauf ändert sich hieran wenig. Allenfalls bei der Aussage, dass die Regierung die gesundheitliche Gefahr übertreibt, steigt der Anteil der Zustimmenden in geringem Maße an. Die Befragten werden demnach nicht retrospektiv zu Corona-Skeptikern; vielmehr scheint die Änderung in der Einschätzung der gesundheitlichen Gefahr sich in der aktuellen Lebensweise widerzuspiegeln.

Abbildung 2: Einstellungen zu den Maßnahmen und der Regierungskommunikation über das Coronavirus. (Daten: Austrian Corona Panel Data: Wellen 6-9; Anteile gewichtet)

Abbildung 4 zeigt, dass die Befragten die eingeführten Maßnahmen nicht nur im Wesentlichen für Angemessen hielten, sondern auch für effektiv. Der Prozentanteil derjenigen, welche die Effektivität der Maßnahmen in Frage stellen, bewegt sich über alle neun Wellen hinweg im einstelligen Bereich (maximal 8 % – minimal 5 %). Dass gerade zu Beginn der Krise die Skepsis gegenüber den Maßnahmen noch etwas höher war, könnte durch die Infektionszahlen der dieser Phase erklärbar sein (siehe hierzu auch Blog 51): Hier wurden in Österreich – trotz eines bereits zweiwöchigen Lockdowns – mit Abstand die meisten positiven Tests registriert. Mit den sinkenden Fallzahlen in den folgenden Wochen stiegen auch die Einschätzungen zur Effektivität der Maßnahmen etwas an; seit etwa einem Monat sinkt diese, trotz zahlreicher Lockerungen, nur leicht.

Abbildung 3: Effektivität der Maßnahmen der österreichischen Regierung, um die Ausbreitung der Krankheit zu verlangsamen. (Austrian Corona Panel Data, Welle 1-9; Anteile gewichtet)

Welche Maßnahmen gelten sollten

Seit der letzten Aprilwoche (Welle 5) wird auch die Einschätzung zu einzelnen Schließungen, Verboten und Einschränkungen abgefragt (Abbildung 5). Im Zeitverlauf zeigt sich hier, dass immer mehr Befragte der Meinung sind, dass weniger Maßnahmen gelten sollten. Dabei zeigen sich aber auch Unterschiede: Jene Verbote und Maßnahmen, welche am längsten bestehen blieben oder noch nicht aufgehoben wurden, erhalten auch die meiste Zustimmung. So befürworten die Befragten die Verbote von Veranstaltungen oder die Maskenpflicht am stärksten – beide Maßnahmen haben weiterhin Bestand. Auch die bevorstehende Lockerung der Reisefreiheit wird vergleichsweise skeptisch betrachtet. Doch auch hier mehren sich Stimmen, die eine Aufhebung befürworten. Die Schließung von Gaststätten wurde Ende April noch von knapp über 50 Prozent unterstützt, mittlerweile stimmen dem nur noch etwa 25 Prozent der Befragten zu. Den größten Sprung in der Zustimmung zu dieser Maßnahme verzeichnen wir in der Woche nach der Öffnung der Gastronomie. Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch bei der Frage zur Schließung der Schwimmbäder ab: Während über Wochen die Mehrheit eine Schließung favorisierte, lag in der 9.Welle – wenige Tage vor der Öffnung vieler Freibäder wie etwa auch in Wien– die Mehrheit zum ersten Mal auf der Seite der Öffnungsbefürworter. Die Bevölkerung scheint insgesamt ihre Meinung an die Ankündigungen der Regierung sowie die faktisch geltenden Maßnahmen anzupassen.

Abbildung 4: Präferenzen für oder gegen die Geltung von möglichen Maßnahmen zur Einschränkung der Ausbreitung des Virus (Austrian Corona Panel Data, Welle 5-9; Anteile gewichtet)

Fazit

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wurden seit ihrer Einführung von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung durchweg als angemessen und effektiv angesehen. Auch rückblickend glaubt nur eine Minderheit, dass die Maßnahmen ein Fehler gewesen sein könnten oder, dass die Darstellung der Gefahrenalge übertrieben sei. Ebenso wurden die Lockerungsmaßnahmen positiv aufgenommen, obwohl der steigende Anteil jener Befragten, welche die Maßnahmen für zu extrem halten darauf schließen lassen, dass es Teilen der Bevölkerung hier etwas zu langsam geht. Die Angaben zur Zustimmung zu einzelnen Maßnahmen machen deutlich, dass die Befragten noch immer stark auf die Expertise der Regierung vertrauen: Obwohl alle Regelungen im Laufe der Zeit an Zustimmung verlieren, bleibt diese bei jenen Regelungen am höchsten, welche immer noch gelten. Waren die Maßnahmen also ein Fehler? Die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung sieht das aktuell jedenfalls nicht so.


Marvin Waibel  arbeitet als Studienassistent am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien am Projekt Verteilungspräferenzen und Bedarfsgerechtigkeit im Netzwerk. Er studiert im Master Soziologie.

David W. Schiestl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Arbeitsmarkt, Migration, Sozialpsychologie und Organisation.

Fabian Kalleitner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien. Aktuell forscht er zu Themen wie Steuerpräferenzen, Steuerwissen, Wahrnehmungsmechanismen und Arbeitswerte.


Fußnoten

[1] Bezüglich der persönlichen Gefahr erhöhte sich die Korrelation (nach Spearman) von ρ=0,24 in Welle 3 auf ρ=0,35 in Welle 9; bei der allgemeinen Gefahr von ρ=0,35 in Welle 3 auf ρ=0,41 in Welle 9.